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Interview

Bei „People Berlin“ werden Straßenkinder zu Designern

people berlin

Was passiert, wenn man Straßenkinder und Jugendliche mit Suchthintergrund oder psychischen Erkrankungen Kleidungsstücke designen lässt? Das Ergebnis kann man in den ausdrucksstarken Kollektionen des jungen Labels „People Berlin“ sehen: Zusammen mit den Hilfsprojekt Karuna e.V. unterstützt ein Team von professionellen Designern die Jugendlichen dabei, ihre Emotionen in Mode umzusetzen. Braucht es dafür nicht jedoch eine langjährige Ausbildung? Darüber habe ich mit Eva Sichelstiel, eine der drei verantwortlichen Designerinnen bei „People Berlin“ gesprochen.

Die Kollektion „Unlike You“ ist bereits die dritte, die das Label in Zusammenarbeit mit Jugendlichen designt hat. Seit März kann diese im neuen Store in den Berliner Hackeschen Höfen bewundern. Mit dem amerikanischen Bioseifenhersteller „Dr. Bronner's“ teilt sich „People Berlin“ dort nicht nur eine Verkaufsfläche, sondern auch eine gemeinsame Philosophie. Was im neuen Store außer Shopping in Zukunft ermöglicht wird, verrät Eva im Interview.

Im Videoclip bekommst du einen Einblick in die „Unlike You“-Kollektion

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desired: Wird jedes Kleidungsstück in euren Kollektionen jeweils von einem Jugendlichen gestaltet?

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Eva: Es ist etwas komplexer. Wir begleiten die Jugendlichen bei jedem Prozessschritt: Von der Themenfindung bis hin zur Idee, dem Entwurf, der Umsetzung und schließlich dem Verkauf und der Pressearbeit. Manche Jugendliche sind sehr lange bei uns, teils bis zu drei Jahre. Andere kommen aber auch nur kurzzeitig.

Wir wollten bei dem Projekt auf jeden Fall sicherstellen, dass das fertige Teil am Schluss auch dann im Laden hängen kann, wenn ein Jugendlicher bei der Umsetzungsphase nicht mehr anwesend ist. Da kommt der Teamgedanke ins Spiel, der für dieses Projekt wichtig ist. Sprich: Der Entwurf kommt immer von einer Person und wenn derjenige bei der Umsetzung nicht mehr da ist, wird er vom Team umgesetzt.

Wenn ich ein Teil aus eurer Kollektion kaufe, weiß ich dann, wer das designt hat?

Ja, der Name und das Alter steht jeweils auf den Etiketten, den „Hang Tags“. Ich zeige dir mal ein besonders Schönes. Das ist zum Beispiel von Nebi. Außerdem steht dort auch nochmal die Idee, also ein Statement wie hier: „Ich zeige, dass ich anders bin“, passend zu dieser Statement-Hose. So erzählt eigentlich jedes „Hang Tag“ die Geschichte und die Idee dahinter. Uns war wichtig, dass man erkennen kann, von wem das Teil gemacht ist und dass wir ganz transparent damit umgehen.

Gibt es ein Teil, das dir besonders gut gefällt oder eine interessante Geschichte erzählt?

People Berlin Kleid
Den Rücken dieses Kleides zieren Schlagworte, die die Jugendlichen bewegen.

Ja, viele. Ein besonderes Teil aus der aktuellen Kollektion ist sicherlich das Kleid von Nicki. Auf diesem stehen durcheinander Begriffe wie „fühlen, laut, leise.“ Das haben wir selbst mittels Siebdruck gemacht. Man sieht hier sozusagen die Stichpunkte, die wir alle zusammen gesammelt haben bei Brainstormings zur Thematik „Unlike You“ aus der dritten Edition. Das Teil gibt sehr direkt wieder, was die Jugendlichen darüber denken. Da stehen sehr ambivalente Sachen drauf. Es geht bei „Unlike You“ darum, dass man traurig, oder stigmatisiert ist, sich ausgeschlossen fühlt, aber wir wollten die Andersartigkeit auch positiv beleuchten. Also zeigen, dass es mutig ist zu sagen, dass man anders ist. Das kann ein Statement und etwas sehr Rebellisches sein.

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Beschäftigen sich die Jugendlichen während des Designprozesses viel mit ihrer eigenen Vergangenheit? Oder ist es eher ein Ausbruch aus der Realität?

Sowohl als auch. Der Vorteil unseres Projektes ist, dass wir gemeinsam ein Produkt erschaffen, was per se zukunftsorientiert ist. Wenn wir Mode in einem weiteren Sinne als Kunst betrachten, dann kann Kunst aber natürlich auch immer ein Medium sein, etwas zu verarbeiten.

Allgemein bewegen sich unsere Editionen immer zwischen der Lebenswelt der Jugendlichen, Mode und Kunst. Wir wählen die Themen bewusst so, dass sie etwas in der Gesellschaft anstoßen, weshalb sich in den Kleidungsstücken oftmals etwas Rebellisches widerspiegelt, ein Bruch mit Konventionen sozusagen. Bekleidungsklassiker werden hinterfragt, dekonstruiert und neu zusammengesetzt. Das wiederum hat natürlich Auswirkungen auf die Jugendlichen und deren Selbstwahrnehmung. Sie lernen, dass sie sich ausdrücken können, wie sie wollen, dass es kein richtig oder falsch gibt.

Mit nicht ausgebildeten Jugendlichen zu arbeiten, ist in der Modewelt bestimmt unüblich. Was hat euch dazu bewogen?

Wir haben verschiedene Erfahrungen in der Modeindustrie gesammelt. Die Frage, die uns immer begleitet hat, war, wo wollen wir uns innerhalb dieser Modeindustrie verorten? Wir haben gemerkt, dass man als Designer mit den Menschen an sich gar nicht viel zu tun hat. Man sitzt am Computer, es gibt schnelle Kollektionszyklen, alles ist durchgetaktet. Für uns war der Gedanke von Nachhaltigkeit und Menschlichkeit wichtig. Mode ist, genauso wie Kunst, ein gutes Medium, um Kritik in der Gesellschaft zu platzieren. Mode ist etwas, womit sich jeder auseinandersetzt. Jeder trägt sie, die Jugendlichen, aber auch alle anderen Gesellschaftsschichten. Jeder zieht sich morgens an und das ist etwas, das uns verbindet.

Da stoßen doch bestimmt zwei Welten aufeinander: Die der Jugendlichen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, und ihr als hochwertiges Modelabel. Euer Store befindet sich außerdem im schicken Berlin-Mitte. Lässt sich das wirklich vereinen?

Das eigentliche Anliegen unseres Projekts besteht darin, unterschiedliche Lebenswelten –unabhängig ihrer sozialen Herkunft – über das verbindende Element Design miteinander in Berührung zu bringen. „Dr. Bronner's“ verwendet hierfür den Begriff des konstruktiven Kapitalismus, ein Gedanke, den auch wir teilen. Sich lediglich gegen ein bestehendes System auszusprechen, schafft noch keine Veränderung. Also denken wir konstruktiv und fragen wir uns: Was haben wir, was ist gegeben und wie können wir das nutzen und modifizieren, um dann eine bessere Zukunft zu erschaffen? Und ja, daher ist unser Standpunkt in Berlin-Mitte eine bewusste Entscheidung.

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Also war es auch eine bewusste Entscheidung, hochwertige Mode zu machen, die teurer ist, als Kleidung von bekannten Modeketten? Die Jugendlichen selbst können sich die Kleidungsstücke ja wahrscheinlich nicht leisten...

Ja, da ist natürlich auch ein gewisser Bildungsaspekt dabei. Einerseits soll mit dem Projekt die gesellschaftliche Wahrnehmung über die Problematik entgleister Jugendlicher geschärft werden, aber auch im Hinblick auf die direkte Arbeit mit den Jugendlichen ist für uns der Aspekt von Wertschätzung gegenüber der Arbeit, die wir gemeinsam leisten, bedeutend. Manchmal schauen wir hierzu auch Dokumentationen über die Modeindustrie und Produktionsbedingungen mit den Jugendlichen, um Aufklärungsarbeit über die oftmals unwürdigen Bedingungen der Modebranche zu leisten. Wenn die Teilnehmer dann über die eigene Arbeit zusätzlich einen Einblick in den aufwendigen Fertigungsprozess von Kleidung bekommen, entsteht Wertschätzung gegenüber der eigenen Arbeit, so dass die Jugendlichen begreifen, wieso ein Teil letztendlich einen gewissen Preis besitzen muss. Darauf sind sie am Ende dann auch sehr stolz!

Ob sich die Jugendlichen die Sachen leisten können, spielt primär gar keine Rolle, sondern für sie ist die Wertschätzung wichtig. Also in diesem System eine Rolle zu spielen.
Eva Sichelstiel von People Berlin

Ich habe in einem Interview mit dem Magazin Intro gelesen, dass es euch um die Demokratisierung der Mode geht. Müsste sich dann nicht aber jeder eure Sachen leisten können? Oder müssen wir als Konsumenten umdenken?

Ich glaube, wir müssen eher umdenken. Die Mode, die wir bei Discountern kaufen, ist ja nur so billig, weil sie in Asien oder Billiglohnländern produziert wird und keine fairen Löhne gezahlt werden. Wenn man wirklich das Design als Profession und das Schneiderhandwerk schätzt und weiß, wie lange es dauert, bis man ein Jackett genäht hat, verändert sich die Wahrnehmung. Die Sachen, die wir machen, sind handgenäht und in Deutschland gefertigt. Wir legen viel Wert auf Stoffqualitäten. Dafür sind sie am Ende nicht so teuer.

In diesem Interview mit sagst du auch, dass eure Kunden die Mode nicht aus Mitleid mit den Jugendlichen kaufen sollen. Lässt sich das wirklich verhindern, nicht auch Kunden zu locken, die mit dem Kauf einfach ihr Gewissen beruhigen wollen?

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Nein, das ist auch ok. Uns geht es bei dem Aspekt Mitleid darum, dass wir im Konzept verankert haben, dass wir nicht die Gesichter der Jugendlichen zeigen wollen. Wir sehen die Einrichtung, in der wir arbeiten, als Schutzraum. Besonders die obdachlosen Jugendlichen haben schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht, waren in irgendwelchen Fernsehreportagen. Das hat immer etwas Voyeuristisches. Leute wollen erst das Leid sehen und dann Gutes tun. Bei unserem Projekt soll das anders sein: Über das Kleidungsstück und das Design kommt eine echte Wertschätzung. Unsere Kunden haben also nicht nur Mitleid für die Lebensgeschichten der Jugendlichen, sondern schätzen sie auch dafür, was sie können. So sehen die Jugendlichen, dass sie nicht nur ihre Vergangenheit haben, sondern auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden.

Die Message, die ihr rüberbringen wollt, ist also nicht, dass die Kleidungsstücke schön sind, obwohl sie jemand ohne Mode-Hintergrund geschaffen hat, sondern weil derjenige eine ganz andere Sichtweise aufs Leben hat?

Genau, da kommt auch wieder die Demokratisierung von Mode ins Spiel. Die Modewelt ist ja wirklich etwas sehr Elitäres. Spannend an der Arbeit mit den Jugendlichen ist auch zu sehen, wie viele Ideen die haben. Da kommen oft Ideen zum Vorschein, die große Modedesigner auch schon hatten. Man erkennt, wie frei deren Herangehensweise ist. Diese Zusammenarbeit macht auch uns Designern Spaß.

Kommen viele Einflüsse dann auch aus Subkulturen wie Hip-Hop, Punk oder Gothic?

Grillz Schmuck
Diese Zahnabdrücke wurden in Statement-Ohrringe verwandelt.

Ja, das haben wir tatsächlich immer. Es geht darum, dass die Lebenswelt der Jugendlichen Inspirationen bietet, die dann für die Zielgruppe von „People Berlin“ übersetzt werden. Mit diesen Einflüssen schaffen wir oftmals auch eine Persiflage starrer Bekleidungsklassiker und bewegen damit zum Umdenken. Das hat oftmals etwas sehr Humorvolles, gar Vereinendes, nicht unbedingt immer nur etwas Rebellisches. Bei den Creolen in unserer aktuellen „Edition 3“ zum Beispiel dienten Grillz – ein Schmuckstück einer Subkultur – als Vorlage. Hierfür haben wir tatsächlich Zahnabdrücke von Projektteilnehmern genommen und diese dann weiterentwickelt, so dass am Ende Ohrringe daraus wurden. Die sind natürlich avantgardistisch und sie polarisieren. Aber das sollen sie ja auch.

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Ist euer Name „People Berlin“ eigentlich bewusst so gewählt, weil ihr die Welt der Jugendlichen hier in Berlin abbilden wollt?

Ja, das ist unsere Herkunft und „People“ hat ja auch etwas sehr Vereinendes. „Berlin“ brauchte es dann einfach noch dazu

Ihr teilt euch die Ladenfläche mit dem Bio-Seifenhersteller „Dr. Bronner’s“. Sind die auf euch zugekommen oder war das umgekehrt?

Ja, „Dr. Bronner’s“ ist tatsächlich auf uns zugekommen. Wir fanden die Idee von einem gemeinsamen Store sehr schön. Dieser Laden ist auch nicht nur als Verkaufsfläche gedacht, sondern an diesem Round Table, der hier steht, sollen in Zukunft auch Veranstaltungen stattfinden, zu denen jeder eingeladen ist. Da sollen dann verschiedene Themen wie Inklusion, Diversität oder soziale Gerechtigkeit diskutiert werden. Wir wollen darüber reden, wie wir Nachhaltigkeit umsetzen können und wie wir unser zukünftiges Leben in der Gesellschaft gestalten wollen. Das verbindet uns eben.

Die Veranstaltungen findet man dann immer auf eurer Facebook-Seite?

Genau, auf Instagram oder Facebook. Oder man meldet sich auf unserer Webseite (Anm. d. Red.: befindet sich derzeit im Umbau) unter „Follow us“ zum Newsletter an.

Vielen dank für das interessante Interview, Eva!

Bildquelle: FOTOS: Jana Gerberding

MAKEUP: Eva Diekhoff

HAIR: Gregor Makris

MODELS: Ella/Girls Club Management und Sarah/Viva Models