Am 14. November wird der erste Vereinbarkeit.jetzt Award verliehen. Eine Auszeichnung, die Organisationen und Einzelpersonen würdigt, die sich für eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Beruf und gesellschaftlichem Zusammenhalt einsetzen. Die Initiative möchte mit dem Award die Debatte um eine bessere Vereinbarkeit anregen und dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Bedeutung von Vereinbarkeit anerkannt wird. Unter den Nominierten in der Kategorie „Top Verein/NGO“ ist das fiktive Unternehmen „Unpaid Care Work“. Dahinter steckt eine starke Idee: unbezahlte Sorgearbeit endlich sichtbar machen und ihr die Anerkennung geben, die sie wirklich verdient hat. Denn ob Kindererziehung, Pflege oder emotionale Unterstützung – Care-Arbeit hält unsere Gesellschaft am Laufen, bleibt aber oft unsichtbar.
Mit „Unpaid Care Work“ schafft das Team rund um Franziska Büschelberger und Katrin Fuchs auf LinkedIn einen Raum, in dem Sorgearbeit nicht länger „Privatsache“ ist, sondern als das gesehen wird, was sie ist: gesellschaftlich wertvoll. Personen, die Sorgearbeit leisten, bekommen durch das fiktive Unternehmen die Möglichkeit, die Zeiten, in denen sie sich der Sorgearbeit gewidmet haben, als Beruf in ihrem Lebenslauf zu hinterlegen – und ihn damit sichtbar machen. Im Interview hat Mitarbeiterin Katrin Fuchs mit uns darüber gesprochen, warum Care-Arbeit keine Frage von Zeitmanagement, sondern von Gerechtigkeit ist und weshalb echte Anerkennung eigentlich schon bei uns selbst beginnt.
Katrin Fuchs von „Unpaid Care Work“ im Interview:
desired: Euer Projekt „Unpaid Care Work“ macht unsichtbare Arbeit sichtbar. Was war der Moment oder die Erkenntnis, die dich persönlich dazu bewegt hat, dich diesem Thema zu widmen?
Katrin Fuchs: Es war das Bedürfnis von Franziska, die sich daran gestört hat, dass ihr eigene Care-Arbeit unsichtbar blieb und es auf LinkedIn keine Möglichkeit gab, diese wichtige Erfahrung in ihrem Lebenslauf sichtbar zu machen. Aus diesem Bedürfnis entstand die Idee, ein fiktives Unternehmen zu gründen und im Lebenslauf somit den wichtigen Bereich der unbezahlten Sorgearbeit sichtbar zu machen. Denn wie verrückt ist es eigentlich, dass die Sorgearbeit, die wir für unsere Kinder, Alten, Kranken etc. leisten – ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren könnte – im LEBENSlauf einfach nicht auftaucht?
Ihr sagt, unbezahlte Sorgearbeit wird immer noch als „privates Problem“ gesehen. Warum ist das aus eurer Sicht ein strukturelles (und damit gesellschaftliches) Thema?
Die Aussage „Das Private ist politisch“ ist ja nicht neu, aber immer noch richtig. Der Wert der unbezahlten Care-Arbeit ist – mit über 800 Milliarden – etwa so groß, wie das gesamte Steueraufkommen von Bund und Ländern zusammen. Es ist also unfassbar viel Zeit und Wert, der hier investiert und geschaffen wird. Gleichzeitig führt Care-Arbeit bei jenen, die sie leisten, oft zu wirtschaftlich prekären Verhältnissen. Hier entsteht eine Situation, die mit Gerechtigkeit nichts mehr zu tun hat. Einige Beispiele, die zeigen, wie absurd das ist: Ziehst du in Deutschland ein Schwein groß, dann zählt das ins BIP und gilt als Wertschöpfung. Ziehst du ein Kind groß, dann ist es Privatsache. Sobald das Kind aber zum Steuerzahler wird, ist es überhaupt keine Privatsache mehr. Es ist in unseren Versorgungssystemen und Generationenverträgen voll eingeplant – für die Gesellschaft. In dem Moment, wo Menschen wirtschaftlich so immense Nachteile erleben, weil sie Care-Arbeit leisten, erscheinen diese Tatsachen schon sehr ungerecht.
Wie begegnet ihr Menschen, die Care-Arbeit noch nicht als gleichwertig mit Erwerbsarbeit sehen? Was bewirkt bei ihnen am ehesten ein Umdenken?
Oft kommen Sätze wie „Ich habe keine Kinder – das Thema betrifft mich nicht.“ Oder „Die sind schon groß“. Dann ist es immer erkenntnisreich aufzuzeigen, dass auch Menschen, die keine eigenen Kinder haben, doch oft Eltern haben, die vielleicht bedürftig werden und Unterstützung benötigen. Es hilft auch darüber nachzudenken, wo die eigene Bedürftigkeit ist. Wer hat mich großgezogen? Wer kümmert sich um mich, wenn es mir nicht gut geht? Was wünsche ich mir an Unterstützung im Alter? Es geht ja nicht darum, dass wir Erwerbs- und Care-Arbeit gegeneinander ausspielen. Beides ist wichtig und beides braucht Anerkennung. Genau darum geht es. Dass Care-Arbeit eben auch Anerkennung und Wertschätzung erfährt und in unserem Wirtschaftssystem mitgedacht, berücksichtigt und anerkannt wird.
Ihr erreicht über 16.000 Menschen auf LinkedIn. Mit welchem eurer Inhalte habt ihr am deutlichsten gemerkt: Jetzt passiert etwas, jetzt bewegt sich was?
Das hat sich schnell gezeigt, denn die unmittelbare Reaktion auf die Gründung des fiktiven Unternehmens war überwältigend. Wir haben Nachrichten bekommen, dass unsere Perspektive für viele individuell viel verändert hat und Menschen sich nun auch selbst Anerkennung schenken für die Care-Arbeit, die sie leisten. Heute decken wir viele relevante Themen ab. Sei es Pflege, Erziehung, Neurodivergenz und so zeigt sich die Vielfalt und Komplexität des Themas. Wir leben in so vielen unterschiedlichen Lebensrealitäten. Das zu erkennen, bewegt auch viel.
Ihr arbeitet komplett pro bono. Was motiviert euch trotzdem, so viel Arbeit in das Projekt zu stecken? Und was würde euch von außen helfen, noch mehr zu erreichen?
Wir arbeiten alle an unserem Herzensthema. Nachdem wir selbst durch harte und anstrengende Zeiten gegangen sind, haben wir nun wieder Luft und Raum und auch Energie, um nicht nur für uns selbst zu kämpfen, sondern auch für große Themen einzustehen und Dinge zu sagen, für die andere aktuell keine Kraft haben. Im Außen würde uns helfen, wenn wir vor allem auch finanzielle Unterstützung bekommen würden, um die Projekte, die wir planen, auch kraftvoll umzusetzen. Wir wünschen uns schon, dass vielleicht ein Förderprojekt uns berücksichtigt und wir durch Fördergelder mehr Impact erzielen können. Daran arbeiten wir intensiv.
Warum ist Vereinbarkeit für euch keine Frage von Zeitmanagement, sondern von Gerechtigkeit?
Ich kann ja nur die Zeit managen, die ich zur Verfügung habe. Das Märchen „Du musst dich nur genug anstrengen, dann kannst du alles schaffen“ ist fatal. Wir haben alle 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Teresa Bücker hat eigentlich in ihrem Buch „Alle_Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“ alles gesagt. Die Verteilung von Zeit ist ungerecht. Gerade wer Care-Arbeit leistet, schafft es eben nicht, einen Vollzeitarbeitstag von 8h zu leisten, die Kinder aus der Kita zu holen, die um 13 Uhr schließt, den Haushalt zu erledigen, nach der Oma zu schauen und dann auch noch selbstbestimmte Zeit zu haben, um die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, um leistungsfähig zu bleiben. Es gibt Menschen, die arbeiten jeden Tag neun Stunden, leben von einem tollen Gehalt und wenn sie nach Hause kommen, dann haben sie frei, da die Haushaltshilfe schon alles erledigt hat. Andere kommen mit ihrem Zeitbudget kaum über die Runden und leben noch in Armut. Warum wird manche Zeit bezahlt, andere nicht? Zeitgerechtigkeit haben wir noch lange nicht erreicht.
Wie sensibilisiert ihr die Jugend zum Beispiel beim Boys Day, wie findet ihr Zugang zu ihnen und habt ihr das Gefühl, sie verstehen, worauf ihr hinauswollt? Oder merkt ihr bereits, dass sie durch klassische Rollenbilder stark beeinflusst sind?
Wir haben erst einmal am Boys Day teilgenommen. Das war aber ein sehr schönes Erlebnis für alle Beteiligten. Die Jungs (es waren über 50) haben toll mitgemacht, waren neugierig und offen. Wir hatten einen sehr schönen Austausch mit ihnen. Gleichzeitig sehen wir aber auch die Entwicklungen bei jungen Männern, die sich wieder mehr an traditionellen Rollen orientieren. Gerade in den sozialen Medien ist das ein großer Trend. Wir glauben, dass es wichtig ist, dass Kinder die Vielfalt an Möglichkeiten sehen, die es gibt. Dass sie offen bleiben. Kinder wollen Gerechtigkeit und haben oft noch sehr feine Antennen, wenn die Gerechtigkeit verloren geht. Ihnen die Wertigkeit und Wichtigkeit von Care-Arbeit aufzuzeigen, vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass sie bereit sind, Care-Verantwortung zu übernehmen und sie fair zu verteilen.
Wenn du dir etwas wünschen könntest: Was müsste sich gesellschaftlich oder auch politisch ändern, damit Care-Arbeit endlich den Stellenwert bekommt, den sie verdient?
Wir müssten Care-Arbeit in all unseren Systemen mitdenken. Es gibt bereits Studien und Modelle, die den Mehrwert (den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen) aufzeigen. Wir müssen sehen, dass wir mit Ausbeutung nicht weiter erfolgreich sein werden. So wie der Planet überhitzt, wenn wir ihn ausbeuten, so überhitzt auch unsere Gesellschaft. Wir müssen wieder einen Weg finden, der uns ermöglicht, nachhaltig und gerecht miteinander umzugehen. Aktuell sehe ich diese Entwicklung leider nicht kommen. Aber wir bleiben dran. Denn wir sind überzeugt, dass das der richtige Weg ist.
Wenn du Frauen, die das Gefühl haben, dass ihre Care-Arbeit nicht gesehen und geschätzt wird, einen einzigen Tipp geben dürftest – welcher wäre das?
Anerkennung beginnt bei uns selbst. Sprechen diese Frauen davon, dass sie „nur Teilzeit“ arbeiten? Dass sie nach der Geburt ihres Kindes „erstmal nichts gemacht“ haben? Wir raten, schenkt euch zunächst selbst Anerkennung, denn das könnt ihr direkt beeinflussen. Wenn ihr euch selbst anerkennt, dann verändert sich auch viel im Umfeld. Ihr sprecht anders mit eurem Partner und Umfeld, ihr setzt euch für eure Bedürfnisse ein. Ihr gebt nicht von alleine klein bei beim Arbeitgeber, wenn ihr aus der Elternzeit kommt. Anerkennung beginnt bei dir – schenke sie dir und fordere sie auch ein in deinem Umfeld. Denn das hast du verdient.
Danke Katrin, für eure unermüdliche und selbstlose Arbeit und viel Glück mit eurem Projekt in der Zukunft!

