Kinder sind meisterhafte Spiegel. Sie zeigen uns ungefiltert, was in uns selbst noch ungelöst ist. Wenn ich mich dabei ertappe, wie ich bei bestimmten Verhaltensweisen meiner Tochter besonders heftig reagiere, während andere Eltern in derselben Situation viel gelassener bleiben, dann liegt das selten an meinem Mini-Me selbst. Meistens berührt es etwas in mir, das noch nicht geheilt ist. Diese fünf Erkenntnisse haben mir geholfen, diese Spiegelung besser zu verstehen:
#1
Die Wut meines Kindes triggert meine eigene unterdrückte Wut
Wenn mein Kind wütend wird, schreit oder tobt, spüre ich manchmal eine Intensität in mir aufsteigen, die nicht zur Situation passt. Lange habe ich gedacht, ich müsse diese Wutausbrüche „in den Griff bekommen“. Heute verstehe ich: Mein Kind darf seine Wut zeigen, während ich als Kind der 90er lernte, meine Gefühle herunterzuschlucken. Die offene Emotionalität meiner Tochter konfrontiert mich mit meinen eigenen verdrängten Gefühlen. Statt die Wut von ihr zu unterdrücken, arbeite ich jetzt daran, meine eigene anzuerkennen und auch mal zu zeigen.
In der Psychologie spricht man übrigens von emotionaler Regulation, die wir als Kinder durch unsere Bezugspersonen lernen. Wurden unsere starken Gefühle nicht zugelassen oder sogar bestraft, haben wir gelernt, sie zu unterdrücken. Diese unterdrückten Emotionen verschwinden aber nicht, sie werden nur weggepackt. Ein hilfreicher Tipp, der mir geholfen hat: Benenne für dich selbst, was du fühlst, wenn dein Kind wütend ist. „Ich spüre Wut in mir“ oder „Ich fühle mich überfordert“ hilft dir, deine eigenen Gefühle von denen deines Kindes zu trennen.
#2
Die Bedürftigkeit meines Kindes zeigt mir meine vernachlässigten Bedürfnisse
„Mama, komm!“, „Mama, spiel mit mir!“, „Mama, ich brauche dich!“ – manchmal fühlen sich diese ständigen Rufe wie eine Überforderung an. Doch wenn ich ehrlich bin, liegt dahinter oft meine eigene Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Fürsorge, die ich manchmal nicht ausreichend erfahren habe. Mein Kind fordert ein, was ihm zusteht und erinnert mich daran, dass auch meine Bedürfnisse wichtig sind. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, besser für mich selbst zu sorgen, statt ständig im leeren Modus zu geben.
Das Konzept des „inneren Kindes“ beschreibt den Teil in uns, der als Kind nicht genug Aufmerksamkeit, Liebe oder Sicherheit bekommen hat. Wenn dein Kind seine Bedürfnisse äußert, kann das dein inneres Kind aktivieren, das ebenfalls nach Zuwendung schreit. Probier mal Folgendes: Nimm dir bewusst zehn Minuten am Tag nur für dich, in denen du etwas tust, das dir guttut. Das kann eine Tasse Tee in Ruhe sein, ein kurzer Spaziergang oder einfach nur Musik hören. Indem du deine eigenen Bedürfnisse ernst nimmst, kannst du aus einem gefüllten Reservoir für dein Kind da sein.
#3
Die „Fehler“ meines Kindes triggern meinen eigenen Perfektionismus
Wenn mein Kind etwas verschüttet, vergisst oder nicht gleich beim ersten Mal versteht, merke ich manchmal, wie Ungeduld in mir hochsteigt. Dahinter steckt nicht die Situation selbst, sondern mein Perfektionismus. Ich wurde (besonders von Lehrer*innen und fremden Erwachsenen) oft für Fehler kritisiert und habe gelernt, dass ich nur wertvoll bin, wenn ich alles richtig mache. Mein Kind, das spielerisch lernt und Fehler als normal ansieht, zeigt mir, wie sehr ich mich selbst unter Druck setze. Es lehrt mich Nachsicht – mit ihm und mit mir selbst.
#4
Die Lautstärke und Lebendigkeit meines Kindes spiegelt meine unterdrückte Lebensfreude
Kinder sind laut, wild, lebendig. Sie rennen, wo ich gehe. Sie lachen, wo ich lächle. Sie sind präsent, während ich oft in Gedanken verloren bin. Manchmal empfinde ich diese Energie als anstrengend, doch eigentlich zeigt mir mein Kind, wie sehr ich selbst meine Lebensfreude zurückhalte. Ich habe gelernt, „vernünftig“ zu sein, leise zu bleiben, mich an die Gesellschaft anzupassen.
Viele von uns haben als Kinder gelernt, dass wir zu laut, zu viel oder zu intensiv sind. Diese Botschaften führen dazu, dass wir uns selbst dämpfen und klein machen. In der Psychologie spricht man von Selbstunterdrückung. Dein Kind lebt noch in seiner authentischen Energie und zeigt dir unbewusst, welche Teile von dir noch darauf warten, wieder gelebt zu werden. Versuch doch mal bewusst, mit deinem Kind „albern“ zu sein. Tanze wild durchs Wohnzimmer, singe laut, mach Quatsch. Du wirst merken, wie befreiend es ist, deine eigene Lebendigkeit wieder zu spüren, und dein Kind wird sich gesehen und akzeptiert fühlen.
#5
Die Abhängigkeit meines Kindes konfrontiert mich mit meiner Angst vor Nähe
Als meine Tochter noch kleiner war, überwältigte mich manchmal ihre totale Abhängigkeit von mir. Ich fühlte mich gefangen, eingeengt. Heute erkenne ich darin meine eigene Ambivalenz gegenüber Nähe und Bindung. Gerade in heterosexuellen Beziehungen wird uns Frauen gerne gesagt, dass wir möglichst unabhängig sein sollten und zu viel Nähe nicht gut ist. Wir haben gelernt, emotional unabhängig zu werden, um nicht enttäuscht zu werden. Die Abhängigkeit deines Kindes kann diese alten Ängste reaktivieren.
Ein hilfreicher Ansatz: Erkenne an, dass die Abhängigkeit deines Kindes zeitlich begrenzt ist und gleichzeitig eine Chance bietet, eine sichere Bindung zu leben, die du selbst vielleicht nicht hattest. Jedes Mal, wenn du präsent und verfügbar für dein Kind bist, heilst du nicht nur seine Bindungserfahrung, sondern auch deine eigene.
Eine Chance für Heilung und Wachstum
Diese Erkenntnis, dass mein Kind mich spiegelt, war zunächst konfrontierend, hat sich aber als das größte Geschenk meiner Mutterschaft entpuppt. Ich sehe jetzt jeden Trigger als Einladung, genauer hinzuschauen und alte Wunden zu heilen. Die Arbeit an mir selbst kommt nicht nur mir zugute, sondern durchbricht auch Muster, die sonst von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wenn ich lerne, mit meiner Wut umzugehen, meine Bedürfnisse ernst zu nehmen und Fehler als Lernchancen zu sehen, gebe ich diese gesunden Haltungen an mein Kind weiter.
Ja, es ist manchmal schmerzhaft, sich den eigenen verletzten Anteilen zu stellen. Aber es ist auch unglaublich heilsam und befreiend. Ich bin dankbar für jeden Moment, in dem mein Kind mir zeigt, wo ich noch wachsen darf. Gemeinsam heilen wir, gemeinsam wachsen wir, und das macht uns beide stärker. Und das ist das schönste Geschenk, das ich mir und meinem Kind machen kann.







