Kürzlich habe ich mich mit einem Freund über Hörbücher unterhalten. Als er mich nach Empfehlungen fragte, sagte ich wie selbstverständlich: „Ach, ich glaube, da ist nichts für dich dabei. Das sind alles eher Liebesromane.“ Sofort hinterfragte ich diese Aussage. Denn warum ist es noch immer so, dass wir Liebesromanen einen „nur für Frauen“ Stempel geben? Weil sie meist eine weibliche Perspektive behandeln und sich mit Emotionen befassen? Ich glaube, genau aus diesem Grund sollten Männer tatsächlich viel öfter Liebesromane lesen.
Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: Frauen lesen laut Befragung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels nicht nur insgesamt häufiger als Männer, sie greifen auch eher zu emotionalen, beziehungsorientierten Geschichten. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Frauen im Durchschnitt empathischer sind als Männer – und das könnte durchaus mit ihren Lesegewohnheiten zusammenhängen. Dabei werden Liebesromane oft völlig zu Unrecht als oberflächlich oder literarisch minderwertig abgetan. Klar, ein Sophie Kinsella-Roman ist vielleicht nicht auf dem literarischen Niveau eines Dostojewski, aber mal ehrlich: Wie viele Männer, die bei Liebesromanen verächtlich die Nase rümpfen haben Dostojewski gelesen? Zeit also, mit diesen Vorurteilen aufzuräumen und zu schauen, warum gerade Männer von diesem Genre profitieren könnten.
#1
Lesen von Belletristik stärkt nachweislich das Empathievermögen
Eine wegweisende Studie von Raymond Mar et al. aus dem Jahr 2009 zeigt: Menschen, die regelmäßig fiktionale Literatur lesen, entwickeln stärkere Empathiefähigkeiten. Männer, die mehr Belletristik konsumieren, profitieren also in der Entwicklung von Perspektivübernahme und emotionalem Einfühlungsvermögen.
Fiktion funktioniert dabei wie ein „soziales Simulationstraining“. Leser*innen durchleben Gefühle, Konflikte und Beziehungsdynamiken, ohne selbst real betroffen zu sein. Liebesromane bieten die perfekte Gelegenheit, in verschiedene emotionale Welten einzutauchen und dabei die eigenen sozialen Fähigkeiten zu schärfen.
#2
Sie lernen weibliche Perspektiven und Bedürfnisse besser verstehen
Seien wir ehrlich: Vielen Männern fällt es schwer, die Gedanken- und Gefühlswelt von Frauen nachzuvollziehen. Das liegt zum Teil an mangelndem Interesse, zum Teil aber auch schlicht daran, dass ihnen die Gelegenheit fehlt, sich intensiv mit weiblichen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Liebesromane – die meist aus weiblicher Perspektive geschrieben sind – können diese Lücke schließen.
Eine aktuelle Untersuchung von New Adult-Buchreihen (Zweigle & Ehrenfried, 2024) zeigt: Diese Bücher behandeln authentisch moderne Beziehungsbilder, psychische Gesundheit und intensive emotionale Erlebnisse. Männer lesen sie kaum, würden aber enorm davon profitieren. So erfahren sie etwas darüber, wie Frauen Liebe, Beziehungen, aber auch Unsicherheiten und Ängste erleben.
#3
Stressabbau und emotionale Entspannung durch Lesen
Wer denkt, Frauen lesen Liebesromane nur aus romantischen Gründen, liegt falsch. Eine Studie zu zeitgenössischen Erotikromanen (Kraxenberger, Knoop & Menninghaus, 2021) fand heraus: Die Hauptmotive der Leser*innen sind Ablenkung, Entspannung und positive Gefühle. Sexuelle Stimulation steht nicht im Vordergrund.
Forschungen zur Persönlichkeit und Lesegewohnheiten (Ottowitz, 2023) bestätigen: Menschen mit höherem Neurotizismus (also Stressneigung) nutzen Lesen gezielt zur Entspannung. Bücher helfen ihnen bei der Stressbewältigung und führen häufig zu Flow-Erlebnissen: dem vollständigen Aufgehen in einer Tätigkeit, verbunden mit Glücksgefühlen. Wenn du also nach einem anstrengenden Arbeitstag abschalten möchtest, kann ein guter Liebesroman therapeutischer wirken als Netflix.
#4
Brechen mit überholten Geschlechterklischees
Viele Liebesromane sind alles andere als triviale Schmonzetten – das ist ein hartnäckiges Vorurteil. Moderne Liebes- und New Adult-Literatur behandelt komplexe Themen wie mentale Gesundheit, Gleichberechtigung und authentische Beziehungsdynamiken. Leser*innen bewerten solche Literatur teilweise sogar als feministisch und progressiv. Natürlich gibt es auch viele Liebesromane, die weiterhin veraltete Klischees und toxische Beziehungsmuster verklären. Die bewusste Auseinandersetzung hiermit kann jedoch auch dazu, führen, dass man(n) ein stärkeres Bewusstsein dafür entwickelt.
Wenn Männer offen für diese Genres sind, signalisieren sie nicht nur Aufgeschlossenheit, sondern erweitern auch ihren eigenen Horizont. Sie setzen sich aktiv mit modernen Beziehungsvorstellungen auseinander und entwickeln ein differenzierteres Verständnis für Gleichberechtigung.
#5
Sie trainieren die emotionale Intelligenz
Emotionale Intelligenz – die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren – ist eine Schlüsselkompetenz für erfolgreiche Beziehungen. Männer, die sich regelmäßig mit emotionalen Geschichten beschäftigen, schulen automatisch diese Fähigkeit.
Menschen mit höherer Offenheit für Erfahrungen – einem Persönlichkeitsmerkmal, das stark mit Lesevorlieben für literarische Genres korreliert – profitieren besonders von intensiven Leseerlebnissen. Sie entwickeln nicht nur empathische Fähigkeiten, sondern auch ein besseres Verständnis für komplexe emotionale Zusammenhänge. Diese Skills sind in allen Lebensbereichen wertvoll, von der Partnerschaft über Freundschaften bis hin zum Berufsleben.
Wie wohl eine Welt mit mehr männlichen Fans von Liebesromanen aussehen würde?
Ich denke, ich werde den Männern in meinem Umfeld in Zukunft ganz bewusst Romane mit weiblicher Protagonistin und komplexer Lovestory empfehlen. Nach der Recherche für diesen Text bin ich mir sicher: Es würde die Welt vielleicht ein bisschen besser machen, wenn mehr Männer sich mit ihren eigenen Emotionen und denen ihrer Mitmenschen auseinandersetzen würden.
Bücher, die das als Hauptthema haben, sind keinesfalls banal. Immerhin macht unser menschliches Miteinander einen Großteil unseres Lebens aus. Die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, macht nicht nur das eigene Leben besser, sondern auch das der Menschen um einen herum. Und die weibliche Perspektive sollte für Männer nicht länger ein Mysterium sein, das sie nichts angeht, sondern etwas, das sie aktiv verstehen zu versuchen.







