Die ersten Lebensjahre prägen uns mehr, als wir oft wahrhaben wollen. Eine sichere Bindung zu unseren Bezugspersonen ist das Fundament für gesunde Beziehungen und emotionale Stabilität im Erwachsenenalter. Doch nicht alle hatten das Glück, diese wichtige Erfahrung zu machen. Welche Anzeichen deuten darauf hin, dass deine frühen Bindungserfahrungen schwierig waren?
Eine sichere Bindung entsteht, wenn Kinder verlässliche, liebevolle und feinfühlige Betreuung erfahren. Ihre Bedürfnisse werden wahrgenommen und angemessen beantwortet. Fehlt diese Sicherheit, hinterlässt das oft lebenslange Spuren. Die gute Nachricht: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit! Das Gleiche gilt auch für unsere Bindungsmuster“, erklärt die systemische Familientherapeutin und Autorin Carina Thiemann. Diese sechs Anzeichen können dir helfen, zu verstehen, ob deine frühen Bindungserfahrungen dich noch heute beeinflussen.
#1
Du reagierst oft unverhältnismäßig stark auf Kleinigkeiten
Kennst du das: Der Nachbar parkt wieder falsch und du explodierst förmlich vor Wut? Oder dein Kind will nicht in die Kita und du gerätst in Panik? Laut der systemischen Familientherapeutin Carina Thiemann ist es „allem voran Verhalten, das für die jeweilige Situation eher unverhältnismäßig ist“, das auf frühe Bindungsverletzungen hinweist. Diese starken Reaktionen sind oft ein Zeichen dafür, dass alte, unverarbeitete Gefühle aus der Kindheit aktiviert werden. Dein inneres Kind reagiert mit der gleichen Intensität wie damals, als es sich unsicher oder bedroht gefühlt hat.
Carina Thiemann hat zu diesem Thema einen aktuellen Ratgeber herausgebracht, der sich speziell an Eltern und alle, die es mal werden wollen, richtet:
#2
Du hast Schwierigkeiten, deine Gefühle zu regulieren
Emotionale Achterbahnfahrten kennst du nur zu gut? Menschen mit unsicheren Bindungserfahrungen haben oft nicht gelernt, ihre Gefühle selbst zu beruhigen. Als Kind warst du auf die Co-Regulation deiner Bezugspersonen angewiesen: Sie sollten dir Trost spenden und deine Emotionen mit dir gemeinsam regulieren.
Blieb diese Unterstützung aus, fehlt dir heute oft das innere Werkzeug, um mit starken Gefühlen umzugehen. Du schwankst zwischen emotionaler Überwältigung und dem kompletten Abschalten deiner Gefühle.
#3
Dein Körper sendet ständig Warnsignale
Rückenschmerzen, Migräne, Verspannungen oder sogar chronische Erkrankungen können Hinweise auf frühe Bindungsverletzungen sein. „Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit als Familientherapeutin erkannt, dass häufig der Körper das trägt, was für die Seele zu schwer war“, beschreibt Carina Thiemann dieses Phänomen.
Durftest du als Kind deine Gefühle nicht ausdrücken und erhieltest keine ausreichende emotionale Unterstützung, sind diese unverarbeiteten Erfahrungen oft im Körper gespeichert. Chronischer Stress durch fehlende Sicherheit kann langfristig zu verschiedensten körperlichen Beschwerden führen.
#4
Konflikte triggern dich besonders stark
Streit mit dem Partner über vergessene Milch wird zum Weltuntergang? Konflikte können bei Menschen mit unsicheren Bindungserfahrungen besonders intensive Gefühle auslösen. Das liegt daran, dass Auseinandersetzungen das alte Gefühl von Unsicherheit und Verlassenwerden aktivieren. „Fangen wir an, unsere Konflikte als Arena zu sehen, in der es häufig auch noch um tiefere unerfüllte Bedürfnisse geht, als die Milch, die der Partner beim Einkauf vergessen hat, können wir eine Menge über uns selbst erfahren“, erklärt Carina Thiemann. Oft geht es gar nicht um den aktuellen Anlass, sondern um alte Verletzungen.
#5
Du hast Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen
Bindungsunsicherheit zeigt sich oft in zwischenmenschlichen Beziehungen. Entweder klammerst du dich verzweifelt an andere oder hältst instinktiv Distanz, aus Angst vor Verletzung. Du zweifelst häufig an der Liebe und Zuneigung anderer oder interpretierst neutrale Situationen als Ablehnung. Das ständige Gefühl, nicht gut genug zu sein oder verlassen zu werden, begleitet dich durch Freundschaften und Partnerschaften. Echte Nähe fühlt sich gleichzeitig sehnlichst gewünscht und bedrohlich an.
#6
Du unterdrückst deine eigenen Bedürfnisse
Als Kind hast du möglicherweise gelernt, dass deine Bedürfnisse nicht wichtig sind oder sogar störend. Diese Erfahrung prägt: Heute fällt es dir schwer wahrzunehmen, was du brauchst, oder du stellst die Bedürfnisse anderer grundsätzlich über deine eigenen. „Wir neigen dazu, eigene starke Gefühle eher unterdrücken zu wollen“, beschreibt Carina Thiemann dieses Verhalten. Dabei sind diese Gefühle „wertvolle Hinweisgeber“. Du hast verlernt, auf deine innere Stimme zu hören und für dich selbst einzustehen.
Expertinnen-Ratschlag für Betroffene
Falls du dich in mehreren Punkten wiederfindest, bedeutet das nicht, dass du „kaputt“ bist. Bindungsmuster lassen sich verändern. „Das liegt am fantastischen Phänomen der Neuroplastizität unseres Gehirns, also der Tatsache, dass wir immer nochmal um- und neu lernen können. Außerdem kann unser Gehirn nicht zwischen realen Erfahrungen und der aktiven Imagination, also dem, was wir uns in unserer Fantasie vorstellen, unterscheiden. Das ermöglicht uns zwar nicht, alte bindungsprägende, womöglich traumatische, Erfahrungen zu löschen, sehr wohl aber die innerliche Nachbeelterung des inneren Kindes“, erklärt Carina Thiemann. Der erste Schritt ist Bewusstsein: Erkenne deine Muster und sei mitfühlend mit dir selbst.
„Folgen wir der Spur unserer Gefühle, können wir wahnsinnig viel über uns lernen, selbst wenn wir wenig Erinnerungen ans dort und damals haben.“
Professionelle Unterstützung durch Therapie kann dir helfen, alte Wunden zu heilen und neue, gesündere Beziehungsmuster zu entwickeln. Auch Selbstfürsorge, Achtsamkeitsübungen und bewusste Arbeit mit deinem inneren Kind können heilsam wirken. Denk immer dran: Du kannst dem Kind in dir nachträglich die Sicherheit und Liebe geben, die es damals gebraucht hätte.







