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Interview

„Viele geflüchtete Frauen haben es schwerer als Männer“

Connect Terre des Femmes

Geflüchtete Menschen haben auch nach ihrer strapaziösen Flucht viele Hindernisse zu überwinden: zahlreiche Behördengänge, die Überbrückung von Sprachbarrieren und das Einfinden in eine fremde Kultur. Glücklicherweise gibt es Initiativen wie das TERRE DES FEMMES-Projekt CONNECT, bei dem ehrenamtliche Patinnen geflüchtete Frauen in ihrem Alltag unterstützen. Projektreferentin Désirée Birri hat uns im Interview erklärt, warum es geflüchtete Frauen in Deutschland oft schwerer haben als Männer.

Das Konzept ist eigentlich ganz einfach: Geflüchtete Frauen, die Hilfe benötigen, können sich in Berlin bei CONNECT melden und werden dann an passende Patinnen vermittelt. Bisher sind so etwa 70 sogenannte Tandems mit geflüchteten Frauen aus über 20 verschiedenen Herkunftsländern entstanden.

Désirée Birri
Désirée Birri vermittelt und begleitet für das TERRE DES FEMMES-Projekt CONNECT Berlinerinnen mit geflüchteten Frauen.

desired:Welche Hindernisse müssen geflüchtete Frauen in Deutschland überwinden, die geflüchtete Männer nicht kennen?

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Désirée Birri: Viele Frauen kommen aus patriarchalen Gesellschaften und waren oft nur 3 bis 4 Jahre in der Schule. Daher fällt ihnen das Deutsch lernen schwerer, weil sie häufig erst noch Lesen und Schreiben lernen müssen. Wenn die Frauen alleine mit ihren Kindern flüchten, muss zuerst auch die Kinderbetreuung gesichert sein, bevor sie einen Deutschkurs besuchen können. Es gibt mittlerweile mehr Kurse mit Kinderbetreuung, es sind aber noch nicht genug. Ich kenne den Fall einer Frau, die ihren B1-Deutschkurs bestanden hat, und nun einen B2-Kurs sucht. Sie hat zwar einen Kita-Platz für ihre Tochter, der B2-Kurs findet aber nachmittags statt, und dafür hat sie wegen ihrer Tochter keine Zeit.

Hinzu kommen Gewalterfahrungen im Herkunftsland, oder auf der Flucht, wo Frauen mehr Gefahren ausgesetzt sind. Viele Frauen fliehen vor Krieg und Verfolgung, es kommen aber auch noch frauenspezifische Fluchtgründe, wie eine Zwangsverheiratung oder eine drohende Genitalverstümmelung dazu. Amnesty International hat in einer kleinen Befragung unter geflüchteten Frauen herausgefunden, dass viele von ihnen lieber am Strand schlafen, weil sie Angst vor Übergriffen in den großen Unterkünften haben. Gerade in den Notunterkünften sind die Begebenheiten nicht gut: Es gibt keine getrennten Toiletten und die Wege sind nicht gut beleuchtet. Da trauen sich die Frauen nachts zum Beispiel gar nicht, alleine auf die Toilette zu gehen.

Connect Patinnenprojekt
Auf Vernetzungstreffen lernen sich geflüchtete Frauen und Patinnen auch untereinander kennen.

Gibt es einen großen Bedarf an Patinnen? Bist du mit der Resonanz zufrieden?

Es könnten immer mehr sein! Von den Erfahrungswerten der letzten Jahre ausgehend war ich zufrieden, aber trotzdem würden wir uns über mehr Ehrenamtliche freuen. Aufseiten der Geflüchteten ist der Bedarf auf jeden Fall da.

Eine Bewerbung als Patin für CONNECT ist leider nicht mehr möglich, da das Projekt zum Ende des Jahres 2019 ausläuft. Auf findest du aber ähnliche Initiativen in deiner Stadt, bei denen du dich ehrenamtlich einbringen kannst.

Kann ich auch als berufstätige Frau überhaupt Patin werden, oder braucht man hierfür mehr Zeit?

Grundsätzlich ja. Wir schauen nur immer, wo die geflüchtete Frau Unterstützungsbedarf hat. Wenn es eine Frau ist, die Hilfe bei Behördengängen braucht, und du einen Arbeitstag bis 17/18 Uhr hast, würde ich euch nicht matchen, weil das einfach nicht passt. Es gibt aber genug Frauen, die sagen, dass sie abends oder am Wochenende Zeit haben. Da schauen wir ganz individuell: Was sagt die Patin? Was sagt die geflüchtete Frau? Wo braucht sie Hilfe? Wann haben beide Zeit? Wir haben zum Beispiel viele Studentinnen, die recht flexibel sind, andere haben nur Freitag mittags Zeit, das ist recht breit gefächert. Es würde also nichts dagegen sprechen, dich zu engagieren, wenn du Vollzeit berufstätig bist - wenn du sagst, du hast die Zeit, oder du nimmst dir die Zeit.

Können Unternehmungen völlig frei gestaltet werden, oder gibt es auch No-Gos?

Das ist tatsächlich sehr frei. Es gibt viele Projekte, die recht spezifisch sind, sich zum Beispiel nur auf die Jobsuche konzentrieren, bei uns ist das sehr offen und richtet sich danach, wo Hilfe gebraucht wird. Das können Behördengänge sein, Unterstützung im Asylverfahren, Begleitung zum Anwalt oder Hilfe bei der Wohnungssuche. Andere gehen auch ins Kino, ins Museum, einige waren in der Philharmonie, bei Konzerten, im Sommer waren viele schwimmen oder Fahrrad fahren. Manche treffen sich auch einfach im Café und unterhalten sich, was ja auch eine gute Übung ist.

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Die Patinnen werden zwar geschult, man kann sich aber sicher nicht auf alles vorbereiten. Gibt es nicht manchmal Kommunikationsprobleme?

Kommunikation ist immer ein Thema, weil viele der geflüchteten Frauen, die sich für das Patinnenprojekt interessieren, noch keine guten Deutschkenntnisse haben. Das ist auf jeden Fall die größte Herausforderung in der Patenschaft. In den Schulungen sensibilisieren wir die Patinnen für unterschiedliche Formen von Gewalt, die die Frauen erlebt haben könnten. Wir reden auch über frauenspezifische Fluchtursachen verschiedener Herkunftsländer und gehen auf Fragen ein wie: Wie kann ich die Frau empowern? Wie kann ich sie vor Ort stärken? Dabei ist es immer von Vorteil, wenn die Patinnen verschiedene Fremdsprachen sprechen, Erfahrungen im Ausland gesammelt haben, oder kreativ im Umgang mit Sprachbarrieren sind.

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Welche kleinen Erfolge konnten geflüchtete Frauen durch CONNECT schon feiern?

Wir haben Vernetzungstreffen, damit sich die Tandems auch untereinander kennenlernen. Dabei haben sich zum Beispiel mehrere Frauen vernetzt und sind zusammen zu einem Basketball-Spiel gegangen. Bei einem Tandem wollte die geflüchtete Frau gerne Fahrrad fahren lernen, und das haben die beiden dann auch zusammen geschafft. Andere geflüchtete Frauen konnten erstmals ein Bankkonto eröffnen, haben eine eigene Wohnung in Berlin gefunden oder sich für ein Studium qualifiziert. Schön ist es auch zu sehen, wie Gespräche über die Rechte von Frauen in Deutschland und den Herkunftsländern in Gang gesetzt werden. Oft sind es diese kleinen Erfolgsgeschichten.

Sicher lernen nicht nur die geflüchteten Frauen etwas: Welches Feedback bekommt ihr von den Patinnen?

Eine Patin schrieb mir mal, dass sie jetzt gelernt hat, wie man in Afghanistan Käse macht. Ihre Tandem-Partnerin hatte ihr das gezeigt. Viele kochen zusammen und lernen Unterschiede in ihren Kulturen kennen. Das ist für viele eine kulturelle Bereicherung und es sind auch Freundschaften entstanden. Es ist auf jeden Fall ein Geben und Nehmen.

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Vielen Dank für das interessante Interview, Désirée!

Gefällt dir die Arbeit von TERRE DES FEMMES? Hier kannst du das Projekt mit einer Spende unterstützen.

Bildquelle: Getty Images/william87, CONNECT, Mey Semtati