Okay, Hand aufs Herz: Wer hat in der dritten Staffel „Ginny & Georgia“, wie ich, jede Folge mitgefiebert, dass Georgia endlich freigesprochen wird. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es Leute gibt, die die Serie schauen und sich denken: „Naja, sie hat das Verbrechen ja auch begangen, es ist also nur fair, dass sie verurteilt wird.“ Doch woran liegt es, dass wir uns in Serien wie dieser ganz klar auf die Seite der Mörderin stellen, wohl wissend, dass sie nicht nur diesen einen Mord begangen, sondern noch zwei weitere Menschen auf dem Gewissen hat? Diese paradoxe Reaktion ist kein Zufall, sondern das Resultat verschiedener psychologischer Mechanismen, die unser Urteilsvermögen beeinflussen.
Moralische Rechtfertigung: Wenn der Zweck die Mittel heiligt
Georgias Motive sind nie rein egoistisch. Ihre früheren Morde an ihren Ex-Männern geschahen aus Selbstschutz oder zum Schutz ihrer Kinder vor Misshandlung. Auch Tom Fullers Tod wird als Akt der Barmherzigkeit dargestellt – sie beendet sein Leiden und erspart Cynthia weitere Qualen. Diese Form der moralischen Rechtfertigung aktiviert unser Gerechtigkeitsempfinden. Wir neigen dazu, Handlungen zu akzeptieren oder sogar zu befürworten, wenn sie einem „höheren Zweck“ dienen, selbst wenn sie objektiv falsch sind.
Die Identifikation mit der Mutterrolle
Als Mutter steht Georgia für einen der stärksten gesellschaftlichen Archetypen. Ihre bedingungslose Liebe zu Ginny und Austin und ihr Kampf, ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, sprechen tief verwurzelte emotionale Reaktionen in uns an. Die Narrative unserer Gesellschaft vermitteln, dass Mütter instinktiv das Richtige tun und ihre Kinder über alles stellen. Diese Idealisierung der Mutterschaft macht es schwer, Georgia zu verurteilen, selbst wenn ihre Methoden fragwürdig sind. Wir projizieren eigene Beschützerinstinkte auf sie und verstehen ihre extremen Maßnahmen als nachvollziehbare Konsequenz mütterlicher Liebe.
Das Trauma-Narrativ: Wenn Vergangenheit Gegenwart entschuldigt
Georgias schwierige Vergangenheit – geprägt von Missbrauch und Gewalt – erzeugt Empathie und erklärt ihre Handlungen als Folge erlittener Traumata. Psychologisch neigen wir dazu, Menschen, die selbst Opfer waren, weniger streng zu beurteilen. Dieses Phänomen nennt sich „Victim-Offender-Overlap“ und beschreibt, wie frühere Viktimisierung spätere Gewalthandlungen in unserem Verständnis relativiert. Georgias Geschichte wird zu einer Art Entschuldigung für ihre Taten. Wir sehen sie primär als Überlebende, nicht als Täterin.
Kognitive Dissonanz: Das Unbehagen mit unserer eigenen Sympathie
Die Tatsache, dass wir Georgia mögen, obwohl sie eine Mörderin ist, erzeugt kognitive Dissonanz, ein psychisches Unbehagen durch widersprüchliche Überzeugungen. Um diese Spannung zu reduzieren, passen wir unbewusst unsere Bewertung ihrer Taten an unsere positiven Gefühle für sie an. Statt sie zu verurteilen, suchen wir nach Rechtfertigungen und mildernden Umständen. Dieser Mechanismus erklärt, warum viele Zuschauer*innen aktiv hoffen, dass Georgia trotz ihrer Schuld freigesprochen wird.
Der Antiheld-Effekt: Komplexe Charaktere faszinieren uns
Moderne Medien haben uns gelehrt, komplexe, moralisch ambivalente Charaktere zu schätzen. Von Walter White bis zu Dexter Morgan: Antiheld*innen üben eine besondere Faszination aus, weil sie menschliche Widersprüche verkörpern. Georgia passt perfekt in dieses Schema: Sie ist gleichzeitig liebevoll und gefährlich, schutzbedürftig und stark. Diese Vielschichtigkeit macht sie interessanter als eindimensionale gute oder böse Charaktere und weckt unser Interesse an ihrer psychologischen Tiefe.
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Sozialer Kontext: Wenn das System versagt
Ein weiterer Faktor für unsere Sympathie ist die Darstellung gesellschaftlicher Missstände in der Serie. Georgias Gewalthandlungen entstehen in einem Kontext, in dem offizielle Hilfsstrukturen versagen – sei es bei häuslicher Gewalt oder bei der Unterstützung pflegender Angehöriger. Wenn das System die Schwächeren nicht schützt, erscheint Selbstjustiz als verständliche Alternative. Diese Kritik an gesellschaftlichen Strukturen lässt Georgias Taten als notwendiges Übel erscheinen.
Der Halo-Effekt: Wenn äußere Schönheit unser Urteil trübt
Nicht zuletzt dürfte Georgia auch ihr mehr als normschönes Aussehen zu Güte kommen. Georgia ist attraktiv, charmant und intelligent – Eigenschaften, die beim sogenannten Halo-Effekt eine entscheidende Rolle spielen. Dieser psychologische Bias führt dazu, dass wir positive Eigenschaften einer Person auf andere Bereiche übertragen, auch wenn diese damit nichts zu tun haben. Georgias äußere Erscheinung und ihr Charisma lassen uns unbewusst annehmen, dass sie auch moralisch integer sein muss. Studien zeigen, dass attraktive Menschen in Gerichtsprozessen tatsächlich mildere Urteile erhalten (zumindest, wenn das Verbrechen nicht im Zusammenhang mit ihrer Attraktivität steht). Ein Phänomen, das sich auch auf unsere emotionale Reaktion als Zuschauer*innen überträgt.
Ist es falsch, mit Georgia zu sympathisieren?
Die Serie „Ginny & Georgia“ zeigt eindrucksvoll, wie komplex unsere emotionalen Reaktionen auf moralisch ambivalente Charaktere sein können. Die Tatsache, dass wir mit einer Mörderin sympathisieren, sagt viel über die Macht des Storytellings und die psychologischen Mechanismen aus, die unser Urteilsvermögen beeinflussen.
Es ist wichtig, sich dieser Bias bewusst zu werden – nicht um Georgia zu verurteilen, sondern um kritisches Denken zu schärfen. In der Realität sind die Grenzen zwischen Recht und Unrecht selten so klar wie in fiktionalen Narrativen. Die Serie erinnert uns daran, dass hinter jeder Tat eine Geschichte steht und konfrontiert uns mit moralischen Fragen: Wann ist Sterbehilfe in Ordnung? Ist es okay, einem schlechten Menschen zu schaden, wenn man damit einen guten schützt?
Am Ende sind wir bei der Serie keine neutralen Zuschauer*innen. Wir lernen Georgia so gut kennen, wie wir es mit anderen Straftäter*innen wohl selten tun. Wir sehen sie aus der Perspektive ihrer Tochter. Und wer würde nicht hoffen, dass die eigene Mutter freigesprochen wird, auch wenn man weiß, dass sie eigentlich schuldig ist?
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