„Ich funktioniere am besten unter Druck“ – diesen Satz hast du vielleicht schon oft gehört oder selbst gesagt. Doch was passiert, wenn aus gelegentlichem Arbeiten unter Zeitdruck eine echte Abhängigkeit wird? Stresssucht ist ein unterschätztes Phänomen unserer Leistungsgesellschaft und kann genauso zerstörerisch sein wie andere Süchte.
Anders als beim sogenannten Border-Collie-Syndrom, wo Menschen z.B. einfach nicht nichtstun können, geht es bei Stresssucht um die bewusste oder unbewusste Suche nach Drucksituationen. Betroffene brauchen den Adrenalinstoß, um sich lebendig zu fühlen, und entwickeln eine Toleranz gegenüber normalem Stress – sie brauchen immer mehr davon. Was nach einem harmlosen Persönlichkeitsmerkmal klingt, kann ziemlich große Konsequenzen für Körper und Geist mit sich ziehen. Hast du selbst das Gefühl, betroffenen zu sein? Diese subtilen Signale zeigen, wie Stresssucht aussehen kann.
Kann man von Stress süchtig werden?
Manche Menschen brauchen Stress wie andere ihren Morgenkaffee. Doch warum und wieso werden Menschen süchtig nach Stress? Diese Erklärungen gibt es:
Die neurochemische Komponente: Stress löst die Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin aus, Botenstoffe, die uns wach, fokussiert und euphorisch machen können. Bei wiederholter Exposition entwickelt das Gehirn eine Toleranz: Es braucht immer stärkere Stressreize, um denselben „Kick“ zu spüren.
Der Belohnungskreislauf: Unsere Gesellschaft belohnt Menschen, die unter extremem Druck Leistung bringen. Diese positive Verstärkung verstärkt das süchtige Verhalten. Wer im letzten Moment brilliert, wird als „Held“ oder „Heldin“ gefeiert und das speichert das Gehirn als erstrebenswert ab.
Emotionale Betäubung: Chronischer Stress kann andere unangenehme Gefühle überdecken. Wer ständig im Überlebensmodus ist, muss sich nicht mit Einsamkeit, Trauer oder existenziellen Fragen auseinandersetzen.
#1
Du suchst bewusst nach riskanten Entscheidungen
Das Verhalten: Du entscheidest dich bewusst für den schwierigeren Weg, auch wenn einfachere Alternativen da wären. Du wählst den Job mit unmöglichen Deadlines statt der entspannteren Position, die Beziehung mit vielen Hindernissen (Fernbeziehung, komplizierte Familienverhältnisse) oder investierst in risikoreiche Projekte. Du mietest die teurere Wohnung, die dich finanziell unter Druck setzt, oder planst drei Umzüge in zwei Jahren. Bei Dating-Apps swipst du eher bei komplizierten Profilen als bei „langweiligen“ Menschen. Wenn Freund*innen fragen „warum machst du dir das Leben so schwer?“, zuckst du mit den Schultern. Irgendwie gefällt dir die Herausforderung.
Dahinter steckt: Du suchst aktiv nach Situationen, die deinen Adrenalinspiegel anheizen. Sicherheit und Planbarkeit fühlen sich langweilig und „leblos“ an. Du verwechselst Drama mit Intensität und siehst ruhige, stabile Situationen als Zeichen von Stillstand oder Versagen. Dein Gehirn hat gelernt: Nur wenn es schwierig ist, ist es wertvoll.
Für die Zukunft: Hinterfrage bei Entscheidungen: „Wähle ich das, weil es sinnvoll ist, oder weil es aufregend ist?“ Mache eine Pro-Contra-Liste und achte darauf, ob „spannend“ oder „herausfordernd“ deine Hauptargumente sind. Lerne, zwischen sinnvollem Risiko und Stress-Hunger zu unterscheiden. Übe, auch in ruhigen, stabilen Situationen Erfüllung zu finden.
#2
Du dramatisierst normale Situationen
Das Verhalten: Aus einem wichtigen Meeting wird „die Präsentation, die über meine ganze Zukunft entscheidet“. Ein kleiner Konflikt mit der Partnerin wird zur „Beziehungskrise“. Eine Erkältung ist „der totale körperliche Zusammenbruch“. Du verwendest ständig Superlative und Katastrophen-Sprache: „Das ist das Schlimmste“, „Ich bin völlig am Ende“, „Das ist existenziell wichtig“. Selbst beim Einkaufen wird der ausverkaufte Lieblingsjoghurt zum „Drama“. Du postest auf Social Media über jeden „Crisis-Modus“ und jede „Challenge“. Andere sagen oft: „So schlimm ist es doch gar nicht“, aber für dich fühlt es sich wirklich dramatisch an.
Dahinter steckt: Du brauchst das Gefühl von hohen Einsätzen, um motiviert zu sein. Normale Situationen aktivieren dein Belohnungssystem nicht mehr ausreichend. Durch die mentale Aufblähung von Problemen erzeugst du künstlich den Stress, den du brauchst, um dich lebendig zu fühlen. Es ist wie eine emotionale Inflation – alles muss größer, dramatischer und wichtiger werden, um noch eine Wirkung zu erzielen.
Für die Zukunft: Übe realistische Einschätzungen: „Was ist wirklich das Schlimmste, was passieren kann?“ Verwende bewusst nüchterne Sprache statt Drama-Worte: aus „Katastrophe“ wird „Problem“, aus „Krise“ wird „Herausforderung“. Frage vertraute Menschen nach ihrer Einschätzung der Situation und nimm ihre Rückmeldung ernst.
#3
Du fühlst dich schuldig, wenn andere gestresst sind und du nicht
Das Verhalten: Wenn Kolleg*innen über Arbeitsbelastung klagen, während du gerade entspannt bist, fühlst du dich unwohl oder sogar schuldig. Du denkst: „Vielleicht arbeite ich nicht hart genug“ oder „Ich sollte auch mehr zu tun haben“. Du meldest dich freiwillig für zusätzliche Aufgaben, nicht weil sie wichtig sind, sondern um „mithalten“ zu können.
Dahinter steckt: Du hast Stress so sehr mit Wert und Wichtigkeit verknüpft, dass du dich ohne ihn minderwertig fühlst. Du glaubst unbewusst, dass nur gestresste Menschen produktiv und wertvoll sind. Ruhe wird mit Faulheit oder Unwichtigkeit gleichgesetzt. Es ist wie ein perverser sozialer Druck: Wer nicht leidet, gehört nicht dazu.
Für die Zukunft: Erkenne, dass dein Wert nicht von deinem Stress-Level abhängt. Feiere bewusst ruhige, produktive Phasen und teile auch diese mit anderen. Erinnere dich: Qualität ist wichtiger als Quantität, auch bei Stress. Wenn andere über Stress sprechen, sage bewusst: „Schön, dass ich gerade entspannt bin“ statt dich zu schämen.
Im Video:
Vielen Menschen tut es sehr gut, sich wortwörtlich alles von der Seele zu schreiben. Das ist tatsächlich nicht nur ein Gefühl, auch Forschungen zeigen, wie gut Journaling sich auf die Psyche auswirken kann. Im Video erklären wir dir mehr dazu.
Und wenn du direkt selbst loslegen willst, können wir dir dieses 6-Minuten-Dankbarkeitstagebuch ans Herz legen:
#4
Du sabotierst entspannte Zeiten durch „wichtige“ Notfälle
Das Verhalten: Im Urlaub checkst du ständig E-Mails und findest immer etwas „Dringendes“ – meist Dinge, die problemlos eine Woche warten könnten. An freien Wochenenden fallen dir plötzlich wichtige Projekte ein: Die Wohnung MUSS umgeräumt werden, die Steuererklärung kann unmöglich bis nächste Woche warten, oder du startest spontan eine Diät mit kompliziertem Meal-Prep. Du erschaffst dir Pseudokrisen: „Ich muss unbedingt noch diese eine E-Mail schreiben“, obwohl sie auch Montag Zeit hätte. Selbst beim Netflix-Abend denkst du: „Ich sollte eigentlich etwas Produktiveres machen“ und scrollst nebenbei durch To-do-Apps.
Dahinter steckt: Dein Gehirn kann echte Entspannung nicht aushalten und sucht verzweifelt nach Gründen, den gewohnten Stress-Modus zu aktivieren. Du hast Angst, dass dir ohne Stress etwas Wichtiges entgeht oder dass du „zurückfällst“. Entspannung fühlt sich wie Zeitverschwendung an, obwohl sie wissenschaftlich bewiesen produktivitätssteigernd ist.
Für die Zukunft: Plane bewusst „No-Emergency-Zeiten“ ein und kommuniziere diese auch an dein Umfeld. Definiere klar, was wirklich ein Notfall ist (meist nur echte Gesundheits- oder Sicherheitskrisen). Widerstehe dem Impuls, künstliche Dringlichkeit zu erschaffen. Stelle dein Handy stumm und lege es in einen anderen Raum.
#5
Du interpretierst körperliche Entspannung als Faulheit
Das Verhalten: Wenn dein Puls ruhig ist, deine Atmung tief und deine Muskeln entspannt sind, fühlst du dich „träge“, „unproduktiv“ oder sogar krank. Du interpretierst diese gesunden Zeichen als Zeichen von Schwäche oder Faulheit. Du trinkst dann bewusst Kaffee oder Energy-Drinks, suchst nach aufregenden Videos oder Nachrichten, oder machst intensive Workouts, um dich wieder „normal“ zu fühlen. Meditation oder Yoga sind für dich langweilig oder verschwendete Zeit. Du sagst Sätze wie: „Ich fühle mich so komisch unausgeglichen“ oder „Mir fehlt irgendwie der Kick heute“.
Dahinter steckt: Dein Nervensystem ist so an Dauerstress gewöhnt, dass Entspannung als „Fehlfunktion“ wahrgenommen wird. Du hast verlernt, wie sich ein gesunder, ruhiger Körperzustand anfühlt. Dein Gehirn interpretiert Ruhe als Gefahr – als würde etwas Wichtiges übersehen werden. Es ist wie bei einem Motor, der immer auf Vollgas läuft und bei normalem Tempo zu stottern beginnt.
Für die Zukunft: Lerne deinen entspannten Körper neu kennen. Übe täglich 10 Minuten bewusste Entspannung und beobachte, wie sich das anfühlt, ohne es zu bewerten. Erkenne: Ein ruhiger Körper ist ein gesunder Körper, kein fauler. Führe ein Entspannungs-Tagebuch und notiere positive Effekte von Ruhephasen.
#6
Du brauchst externe Bestätigung für deinen Stress
Das Verhalten: Du erzählst gerne und detailliert, wie gestresst du bist, und erwartest Anerkennung dafür. Sätze wie „Ich hatte nur drei Stunden Schlaf“, „Ich habe 14 Stunden gearbeitet“ oder „Ich trinke meinen fünften Kaffee heute“ sagst du mit einer gewissen Selbstverständlichkeit oder sogar Stolz. Du postest auf Instagram Storys von deinem überfüllten Kalender oder Fotos vom Laptop um Mitternacht. Du fühlst dich gut, wenn andere sagen: „Wahnsinn, wie du das alles schaffst!“ oder „Du bist so busy!“. Bei Unterhaltungen wendest du Gespräche schnell zu deinem Stress-Level: „Ach, das kenne ich, ich hatte letzte Woche drei Deadlines gleichzeitig ...“
Dahinter steckt: Du hast gelernt, dass Stress soziale Anerkennung bringt. Es ist deine Art, anderen zu zeigen, wie wichtig und unentbehrlich du bist. Ohne diese externe Bestätigung deines Stress-Levels fühlst du dich unsichtbar oder unwichtig. Stress ist zu deinem persönlichen „Markenzeichen“ geworden – ohne ihn weißt du nicht, wer du bist oder womit du beeindrucken könntest.
Für die Zukunft: Suche bewusst nach anderen Quellen für Anerkennung. Erzähle von deiner Kreativität, deinen Hobbys oder lustigen Erlebnissen. Übe, auch von ruhigen Momenten zu erzählen, ohne dich zu rechtfertigen: „Ich hatte ein entspanntes Wochenende“ ist genauso wertvoll wie „Ich war super busy“. Beobachte, wie Menschen reagieren, wenn du von Entspannung erzählst, denn natürlich ist es oft positiver als erwartet.
Unser Ratschlag:
Stresssucht zu erkennen ist schwieriger als andere Abhängigkeiten, weil sie gesellschaftlich oft belohnt wird. Der erste Schritt ist die Erkenntnis, dass chronischer Stress kein Zeichen von Stärke oder Wichtigkeit ist, sondern ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko.
Denn die gesundheitlichen Folgen sind real und können schwerwiegend sein: Chronischer Stress kann zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen und Angststörungen führen. Das Immunsystem wird geschwächt, das Burnout-Risiko steigt drastisch und auch das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte erhöht sich erheblich. Was heute als „spannender Lebensstil“ erscheint, kann morgen zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen.
Beginne mit kleinen Schritten: Plane bewusst stressfreie Zeiten ein und halte sie ein, auch wenn es sich zunächst komischer, sogar falsch anfühlt. Lerne, deinen Wert nicht über dein Stress-Level zu definieren. Entwickle alternative Quellen für Aufregung und Lebendigkeit; Sport, Kreativität oder neue Lernerfahrungen können gesunde Alternativen sein.
Falls du merkst, dass die Stresssucht dein Leben und deine Gesundheit beeinträchtigt, zögere nicht, professionelle Hilfe zu suchen. Ein*e Therapeut*in kann dir dabei helfen, die zugrundeliegenden Bedürfnisse zu verstehen und gesündere Wege zu finden, sie zu erfüllen. Deine mentale Gesundheit und dein Körper verdienen es, dass du sie ernst nimmst, bevor ernsthafte Folgeschäden entstehen.
Diese 5 Dinge machen gelassene Menschen anders
Wenn du jetzt direkt an deinem Stressmanagement arbeiten möchtest, hilft es dir ja vielleicht, bei anderen zu „spicken“. Denn es gibt einige Dinge und Verhaltensweisen, die entspannte Menschen anders machen und von denen man sich eine Scheibe abschneiden kann. Erfahre hier mehr.