Unser Gehirn ist ein Meisterwerk der Anpassung. Bereits in jungen Jahren lernt es, uns vor emotionalen Verletzungen zu bewahren. Wenn wir als Kind Ablehnung, Kritik oder Überforderung erlebt haben, entwickeln wir automatisch Strategien, um uns zu schützen. Diese psychologischen Schutzmechanismen waren damals sinnvoll und haben uns geholfen, schwere Zeiten zu überstehen.
Das Problem: Was uns als Kind oder Jugendliche*r beschützt hat, kann im Erwachsenenleben zu einem echten Hindernis werden. Diese einst hilfreichen Muster sabotieren heute unsere Beziehungen, blockieren unsere Entwicklung und halten uns davon ab, unser volles Potenzial zu entfalten. Erkennst du dich in einem der folgenden Schutzmechanismen wieder?
#1
Perfektionismus als Schutz vor Kritik
Früher: Als Kind hast du gelernt, dass du nur geliebt wirst, wenn du alles richtig machst. Vielleicht waren deine Eltern sehr streng oder haben dich nur gelobt, wenn deine Noten perfekt waren. Kritik tat so weh, dass du beschlossen hast: Ich mache einfach alles perfekt, dann kann mich niemand verletzen. Diese Strategie hat funktioniert – du warst das „brave Kind“, das nie Ärger bekommen hat.
Heute: Du setzt dich ständig unter enormen Druck, erledigst Aufgaben viel langsamer, weil jedes Detail stimmen muss, und traust dich nicht, neue Dinge auszuprobieren. E-Mails schreibst du dreimal um, bevor du sie abschickst. Bei der Arbeit meldest du dich nicht zu Wort, weil deine Idee ja „nicht gut genug“ sein könnte. Die Angst vor Fehlern lähmt dich und raubt dir die Freude am Lernen und Ausprobieren.
Für die Zukunft: Übe bewusst, „gut genug“ als Maßstab zu akzeptieren. Setze dir Zeitlimits für Aufgaben und halte dich daran. Feiere kleine Erfolge und erinnere dich daran: Perfektion ist eine Illusion, aber Fortschritt ist real.
#2
Menschen gefallen um jeden Preis
Früher: Du hast gemerkt, dass Harmonie bedeutet, dass sich alle wohlfühlen. Vielleicht gab es zu Hause oft Streit oder deine Bezugspersonen waren schlecht gelaunt, wenn jemand widersprach. Konflikte machten dir Angst, also hast du gelernt, immer nett zu sein, nie zu widersprechen und die Bedürfnisse anderer über deine eigenen zu stellen. Das brachte dir Lob und Anerkennung ein.
Heute: Du sagst ständig „Ja“, obwohl du „Nein“ meinst, übernimmst die Bedürfnisse anderer und vergisst dabei deine eigenen. Du arbeitest Überstunden, weil du deinen Chef nicht enttäuschen willst. Bei Restaurant-Besuchen bestellst du das, was anderen gefällt, statt das, worauf du Lust hast. Du weißt oft gar nicht mehr, was du selbst willst, weil du so darauf fokussiert bist, andere glücklich zu machen.
Für die Zukunft: Beginne mit kleinen „Neins“ in ungefährlichen Situationen. Frage dich täglich: „Was will ICH eigentlich?“, und teile mindestens eine ehrliche Meinung pro Tag mit. Denke daran: Menschen respektieren Authentizität mehr als ständige Anpassung.
#3
Emotionale Mauern errichten
Früher: Offenheit hat dir wehgetan – vielleicht wurdest du ausgelacht, wenn du geweint hast, oder deine Gefühle wurden als „übertrieben“ abgetan. Möglicherweise hast du erlebt, dass emotionale Verletzlichkeit ausgenutzt wurde. Also hast du gelernt, deine Emotionen tief in dir zu verstecken und nach außen hin stark zu wirken. Das hat dich vor weiteren Verletzungen geschützt.
Heute: Du wirkst auf andere oft kühl oder distanziert, auch wenn du das gar nicht willst. Echte Nähe fällt dir schwer und du sabotierst unbewusst Beziehungen, bevor sie zu tief werden können. Wenn dich jemand fragt, wie es dir geht, antwortest du automatisch mit „gut“, selbst wenn du innerlich kämpfst. Du hast Angst davor, dass andere deine wahren Gefühle als Schwäche interpretieren könnten.
Für die Zukunft: Starte mit kleinen emotionalen Öffnungen bei Menschen, denen du vertraust. Teile zunächst positive Gefühle, bevor du zu verletzlicheren Emotionen übergehst. Erinnere dich: Emotionale Intelligenz zeigt Stärke, nicht Schwäche.
Im Video: So wirkungsvoll ist Journaling für deine Psyche
Wie und warum sich Journaling so positiv auf deine psychische Gesundheit auswirkt, erklären wir dir im Video.
Und wenn du direkt loslegen willst, können wir dir dieses 6-Minuten-Tagebuch sehr ans Herz legen:
#4
Kontrolle über alles und jeden
Früher: Deine Umgebung war unberechenbar oder chaotisch. Vielleicht gab es Suchtprobleme in der Familie, häufige Umzüge oder emotionale Instabilität bei wichtigen Bezugspersonen. Du hast gelernt, dass du dich nur sicher fühlst, wenn du die Kontrolle behältst und alles bis ins Detail planst. Diese Strategie hat dir Halt und Sicherheit in einer unsicheren Welt gegeben.
Heute: Du mikro-managst dein Leben und das deiner Mitmenschen, kannst schlecht delegieren und rastest aus, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Du planst jeden Tag minutiös durch, machst Listen für alles und fühlst dich gestresst, wenn sich spontan etwas ändert. Bei der Arbeit fällt es dir schwer, Aufgaben abzugeben, weil „niemand es so gut macht wie du“. Spontaneität und Überraschungen stressen dich enorm.
Für die Zukunft: Übe bewusst, kleine Bereiche „unkontrolliert“ zu lassen – zum Beispiel ein spontanes Abendessen oder einen ungeplanten Spaziergang. Atme tief durch, wenn Pläne sich ändern, und frage dich: „Was ist das Schlimmste, was passieren kann?“ Meist ist es viel harmloser als befürchtet.
#5
Unsichtbar werden, um sicher zu sein
Früher: Aufmerksamkeit bedeutete oft Ärger oder Kritik. Vielleicht warst du das mittlere Kind, das übersehen wurde, oder deine Eltern waren überfordert und reagierten genervt, wenn du Aufmerksamkeit eingefordert hast. Du hast gelernt, dass es sicherer ist, klein und unauffällig zu bleiben. Wer nicht auffällt, bekommt auch keinen Ärger – diese Rechnung ist aufgegangen.
Heute: Du traust dich nicht, deine Meinung zu äußern, bleibst bei Meetings stumm, obwohl du gute Ideen hast, und lässt Chancen an dir vorbeiziehen. Beförderungen gehen an lautere Kolleg*innen, obwohl du die bessere Arbeit leistest. In sozialen Situationen stehst du lieber am Rand, statt dich in Gespräche einzubringen. Deine Stimme zu erheben, fühlt sich immer noch gefährlich an.
Für die Zukunft: Setze dir kleine Ziele: Äußere eine Meinung pro Woche, stelle eine Frage in einem Meeting oder teile eine Idee mit einer vertrauten Person. Schreibe deine Erfolge auf – oft vergessen wir, was wir bereits geschafft haben. Du verdienst es, gesehen und gehört zu werden.
#6
Übermäßige Selbstständigkeit
Früher: Auf andere zu zählen hat dich enttäuscht. Vielleicht haben deine Eltern Versprechen gebrochen, waren emotional nicht verfügbar oder du musstest schon früh Verantwortung für jüngere Geschwister übernehmen. Du hast beschlossen: Ich mache das ab sofort alles allein, dann kann mich niemand im Stich lassen. Diese Unabhängigkeit hat dir Kraft gegeben und dich vor Enttäuschungen bewahrt.
Heute: Du lehnst Hilfe ab, auch wenn du sie dringend bräuchtest, überforderst dich regelmäßig und hast Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen. Du sagst Sätze wie "Das schaffe ich schon allein" oder "Ich will niemandem zur Last fallen". Echte Teamarbeit oder tiefe Partnerschaften fühlen sich bedrohlich an, weil sie Verletzlichkeit und Abhängigkeit bedeuten könnten. Du hilfst gerne anderen, aber Hilfe anzunehmen fällt dir unglaublich schwer.
Für die Zukunft: Beginne mit kleinen Hilfsanfragen in unkritischen Bereichen – bitte jemanden, dir etwas zu erklären oder dir bei einer Kleinigkeit zu helfen. Erkenne, dass um Hilfe zu bitten ein Zeichen von Stärke ist, nicht von Schwäche. Vertrauen wächst langsam – gib dir und anderen die Zeit dafür.
Ratschlag:
Diese Schutzmechanismen zu erkennen, ist der erste wichtige Schritt zur Veränderung. Sei dabei bitte geduldig und liebevoll mit dir – diese Muster haben dir einmal das Leben „gerettet“. Sie loszulassen, braucht Zeit und Übung. Beginne damit, bewusst wahrzunehmen, wann diese alten Muster aktiv werden. Frage dich: „Ist diese Reaktion in der aktuellen Situation wirklich hilfreich?“ Oft wirst du feststellen, dass die Gefahr, vor der dich dein Schutzmechanismus bewahren will, gar nicht mehr existiert.