Die Einladung liegt auf dem Tisch. Edles Papier, verschnörkelte Schrift und zwei verschlungene Ringe. Schon wieder. Als unverheiratete Ü30-Jährige könnte man meinen, du hättest einen Doktortitel in Hochzeitsgäste-Sein. Doch mit jedem eleganten Umschlag starten die gleichen Gedankenspiralen. Von „Wie wunderschön!“ bis „Uff, nicht schon wieder“ – vielleicht findest du dich ebenfalls in diesen ambivalenten Gedanken wieder, wenn andere den Bund fürs Leben schließen.
#1
Was ziehe ich an?!
Die Hochzeit ist in drei Monaten. Kein Problem. Das sind ca. 90 Tage Zeit, um DAS PERFEKTE OUTFIT zu finden. Zwei Tage vor der Feier stehst du dann doch panisch vor dem Kleiderschrank und probierst zum zwanzigsten Mal das gleiche Kleid an. Zu festlich? Zu casual? Wird es als Weiß durchgehen oder ist es eher ein sehr, sehr helles Beige? Und dann ist da noch die ewige Frage: Welche Schuhe sind bequem genug für die unvermeidliche „Single Ladies“-Tanzrunde, aber trotzdem elegant? Ein einziger Pain.
#2
Wenn ich diese Frage noch einmal höre …
„Und, wann bist du dran?“ Die Frage kommt so sicher wie das Amen in der Kirche – meist von einer entfernten Tante oder dem Onkel dritten Grades. Lieb, dass du fragst. Als hättest du eine Hochzeit in deiner Schublade versteckt und würdest nur auf den richtigen Moment warten, sie auszupacken. Über die Jahre hast du verschiedene Antwortstrategien entwickelt: von höflichem Lächeln über schlagfertige Comebacks („Wenn die Rente nicht mehr reicht“) bis hin zu ausführlichen Erklärungen über moderne Beziehungskonzepte (die größtenteils im Desaster enden und die Mühe nicht wirklich wert sind).
#3
Die romantische Achterbahn startet JETZT
Beim Einzug der Braut passiert es dann doch. Ein Kloß im Hals. „Oh mein Gott, wie wunderschön sie aussieht.“ Für einen Moment schmilzt all der Zynismus dahin, und du wirst von einer Welle aus Emotionen überrollt. Vielleicht ist es die Musik, vielleicht die Tränen in den Augen des Bräutigams – plötzlich glaubst du wieder an diese große Liebe. Zumindest für die nächsten 30 Minuten, bis der praktische Teil deines Gehirns übernimmt und dich daran erinnert, dass hinter dieser perfekten Inszenierung vermutlich Monate voller Stress, Familiendramen und Budget-Diskussionen stecken.
#4
Das Eheversprechen aka. kurzzeitiger Betriebsausfall im Hirn
„Das ist so rührend. Ob ich auch solche Worte finden würde? Wobei – eigentlich ist es auch mega cringe, seine privatesten Gefühle vor 80 Leuten auszusprechen. Aber irgendwie auch schön. Ach, jetzt weint der Brautvater. Vielleicht sollte ich auch ... NEIN, nicht weinen, das Make-up hält nicht! Konzentriere dich auf etwas anderes. Die Blumendeko sieht teuer aus. Was die wohl gekostet hat?“
#5
Das schizophrene Liebeslieder-Syndrom
Bei jedem romantischen Song denkt ein Teil von dir: „Wenn ich diese Zeile noch einmal höre, werde ich freiwillig ins Kloster gehen.“ Doch dann ertappt dich ein anderer Teil dabei, wie du heimlich auf deinem Handy die Playlist speicherst – für den Tag, der vielleicht irgendwann kommt. Oder vielleicht auch nicht. Und ist das wirklich so schlimm?
#6
Und da fliegt der Strauß – yeahj
Das Werfen des Brautstraußes löst einen instinktiven Fluchtreflex aus. Die letzten Male hast du es vermieden, in die „nächste Braut“-Falle zu tappen und das soll mal schön so bleiben. Deine Strategien reichen von strategischem Toilettengang bis hin zu plötzlichem Interesse am Gesprächsthema der Großeltern. Gleichzeitig fragst du dich insgeheim, ob es nicht doch ein bisschen Spaß machen würde, dieses Symbol zu fangen – schließlich warst du irgendwann in der Grundschule mal für zwei Wochen im Volleyballteam ...
#7 Lieblingsort: Buffet
Lieblingsort: Buffet
Die Schlange am Buffet ist dein heimlicher Lieblingsmoment bei jeder Hochzeit. Hier verschwinden für einen Augenblick all die sozialen Erwartungen und unangenehmen Fragen. Das Essen fragt nicht, wann du heiraten oder Kinder bekommen willst. Es interessiert sich nicht für deinen Beziehungsstatus oder ob deine Karriere den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Das Buffet urteilt nicht – es ist einfach da und schenkt bedingungslose Freude. Während du dir überlegst, ob du beim Dessert mit Schokoladenmousse oder Crème brûlée beginnen sollst, genießt du diesen kurzen Moment der Freiheit von allen Konventionen. Hier bist du mit dem Essen und deinen Gedanken ganz im Hier und Jetzt – genau wie es sein sollte.
Vielleicht hilft dir dieser Gedanke auch
Es gibt keinen festgelegten Zeitplan fürs Leben
Zwischen all diesen widersprüchlichen Gefühlen musste ich sehr an ein Interview von mir mit der Autorin Jennifer Klinge denken, bei dem es genau um das Thema ging: Ü30, single = Worst Case. Und ihre Gedanken haben mich wirklich nachhaltig geprägt. „Es geht immer darum, möglichst früh, möglichst viel abhaken zu können. Aber was ist, wenn wir bis dahin schon alles verballert haben, an dem, was man so erreichen kann? [...] Bleib doch mal ein bisschen im Moment und bleib mal offen dafür, was das Leben vielleicht so mit dir vorhat. Es ist doch alles irgendwie wie eine große Reise und da haben wir eben verschiedene Stopps drin.“ On point, nicht wahr? (Mehr Inspo findest du in ihrem Buch „Auch gut!“)
Vielleicht ist das die eigentliche Weisheit: Es gibt keinen festgelegten Zeitplan für das Leben. Während andere an der Hochzeitsstation halten, bist du vielleicht auf einem ganz anderen Abschnitt deiner Reise – mit eigenen Abenteuern, Herausforderungen und Freuden. Die Wahrheit ist: Mit 30 hast du weder „zu viel verpasst“ noch „nicht genug erreicht“ – du bist genau da, wo deine Reise dich hingeführt hat.
Also genieße den Champagner, tanze zu den kitschigen Liedern und lächle, wenn die Tante zum dritten Mal fragt. Denn während alle damit beschäftigt sind, Meilensteine abzuhaken, erlebst du vielleicht gerade die Momente dazwischen – und die sind manchmal die wertvollsten von allen.